Vergessen I
Seit mehreren Tagen schon kam sie immer zur gleichen Zeit an der Stelle vorbei, wo ich die aufgehende Sonne und mit ihr einen neuen Tag zu begrüßen mir angewöhnt hatte.
Zuerst fiel sie mir durch ihr glänzendes, dichtes schwarzes Haar auf. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein gut gepflegtes Gefieder. Ein seltsamer Kontrast zur hellen Haut.
Ich hatte den Eindruck, dass sie noch jung war, obwohl sie die gebeugte Haltung und den langsamen Gang einer alten Frau hatte.
Ich habe die Sonnenaufgänge nicht gezählt. Irgendwann nahm ich meinen Mut zusammen und rief ihr zu, sie solle sich doch über den neuen Tag freuen, das Leben ist zu kurz um es zu vergeuden. Sie blickte nicht auf, wandte sich nicht um. Jeden Tag blieb sie vor einem der großen Fenster stehen, sah sich die Bilder von fernen Gegenden an, wo immer die Sonne schien. Manchmal glaubte ich, eine der Landschaften zu erkennen. Dann eines Tages wandte sie sich doch um, sah mir direkt in die Augen. Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht.
Verständnislos und irgendwie traurig. Sie verstand meine Sprache nicht, fühlte nur, dass ich es gut mit ihr meinte.
Ermutigt durch ihr Lächeln folgte ich ihr in sicherem Abstand. Sie ging in einen der großen Parks, in denen die Stadtmenschen an bestimmten Stellen Blumen und andere interessante Dinge ablegten. Sie holte ein Papier aus ihrer Tasche und faltete es auseinander. Es war ein großes Bild wie jene, die in dem Fenster zu sehen waren. Dazwischen ein kleineres Bild. Meine scharfen Augen erkannten einen jungen Mann und eine junge Frau – DIE junge Frau. Und zwei weitere kleine Papiere, mit Zeichen bedeckt, die selbst für meine Augen zu klein waren. G-L-A-N-D war das Einzige, was ich erkennen konnte. Der Sinn der Zeichen blieb mir verborgen
.
Ein paar Tropfen fielen auf das große Bild. Mehrere Flecken verrieten, dass es nicht die ersten waren. Ich begann zu verstehen. Auch ich hatte auf meiner Wanderung einen Gefährten verloren. Rasch entfernte ich mich. Was hätte ich sonst für sie tun können? Sie haben nicht dieselben Gewohnheiten wie wir, essen nicht dieselben Dinge…
Am nächsten Morgen drehte sie sich wieder zu mir um (und von da an jeden Tag). Sie sah mich an als würde sie in mir eine alte Bekannte erkennen. Und sie lächelte. Jeden Tag ein kleines bisschen mehr. Bis es Zeit war für mich, wieder auf die Reise zu gehen.
Vergiss den Schmerz. Freu dich, das Leben ist so kurz.
Kraah! Kraahhh!